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 Echte Gefühle und wie sie beschrieben werden können.

Die Liebe als Gefühl in Deutschland zur Zeit des Bürgertums

"Die Liebe als Gefühl in Deutschland zur Zeit des Bürgertums" erklärt anhand zweier Lexika, wie der Bildungsbürger zum Ende des 19. Jahrhunderts die Liebe verstand. Die Definition ist nicht immer identisch mit der Sichtweise der übrigen Bevölkerung. Konversationslexika (die damals noch enorm teuer waren), standen nur in wenigen Haushalten.

Die Liebe als Gefühl in Deutschland zur Zeit des Bürgertums anhand von Lexika

Um den Begriff der Liebe im Deutschland zu verstehen, kann es gut sein, einen Blick in die Geschichte der Lexika zu werfen. Der aufgeklärte, wohlhabende Bürger besaß im 19. Jahrhundert ein Konversationslexikon, und ihm fand sich dann auch der Begriff „Liebe“, wobei Meyers Lexikon ausführlicher berichtete als das des Konkurrenten Brockhaus. Bei Meyers wurden einzelne Passagen ausgelassen, und die Rechtschreibung wurde dem heutigen Standard angenähert, um besser lesbar zu sein.

Liebe als Begriff - im Bürgertum anno 1885

Im ersten Teil geht Meyers Lexikon von 1885 darauf ein, warum Menschen überhaupt voneinander angezogen werden. Bereits darin wird deutlich, dass der Liebe einen sinnlichen Charakter hat, indem das Lexikon sagt, die Liebe beruhe auf einem „unwiderstehlichen Drang zur Vereinigung“.

Das Gefühl, welches ein erstrebenswertes Gut in den Lebewesen erregt, und das in der Vereinigung mit demselben, sei es als herrschendes oder dienendes Glied, seine Befriedigung findet. Die Eigenschaften, welche den Wunsch der Vereinigung, resp. des Besitzes erwecken, können von mancherlei Art sein, in äußeren und inneren, körperlichen und geistigen Vollkommenheiten, Schönheit, Kraft und in solchen Vorzügen bestehen, die der liebende Teil vielleicht um so mehr bewundert, je weniger er sie selbst besitzt. Indem man den unwiderstehlichen Drang zur Vereinigung, der die Liebe kennzeichnet, wie eine elementare, physische Kraft betrachtete und sich dabei der gegenseitigen Anziehung der ungleichen Magnetpole, der Abstoßung der gleichartigen erinnerte, entstand das schon von Platon erörterte philosophische Theorem, dass zur Liebe eine polare Verschiedenheit, ein möglichst großer Gegensatz gehöre…


Wie die Lexika des 19. Jahrhundert die Liebe zwischen Personen erklärten

Im zweiten Teil wird die Gegenseitigkeit der Liebe zwischen Personen betont. Dabei ist entscheidend, dass in der Liebe ein Weg zur Vollkommenheit gesehen wird:

Im engeren Sinn versteht man unter Liebe nur das Verhältnis lebender Wesen zueinander, und nur unter ihnen kann sie zu derjenigen Steigerung und Vollkommenheit gelangen, welche durch die Gegenseitigkeit der Liebe bedingt wird …


Die Bedeutung der "Geschlechtsliebe" und die Beziehungen

Die Geschlechtsliebe setzt schon an sich den in körperlichen und geistigen Verschiedenheiten ausgeprägten geschlechtlichen Gegensatz voraus und in vielen Fällen, wenn sie zu dauernder Befriedigung führen soll, auch einen gewissen Gegensatz der Charaktereigentümlichkeiten, sodass eine gegenseitige Ergänzung und Ausgleichung möglich wird, wie z. B. zwei heftige und unnachgiebige Persönlichkeiten niemals glücklich miteinander leben könnten.

Betrachtungen zu Leidenschaften und Begierden

Das Lexikon betont dann, ganz im Zeitgeist, den Unterschied der Geschlechter. Die Lexika betonen dabei, dass Unterschiede im Charakter günstig seien, um Ergänzung und Ausgleich zu ermöglichen. Ebenfalls der Zeit entsprechend, wir die körperliche Begierde zunächst heruntergespielt und dem Tierreich zugewiesen. Dann aber wird die Liebe erneut auf eine Naturkraft zurückgeführt. Um dies zu beweisen, wird hauptsächlich die Literatur bemüht. Zitat:

Bei der Geschlechtsliebe spielen aber außerdem eine Menge dunkler und instinktiver Regungen und Gefühle hinein, namentlich im Tierleben … Beim Menschen sind diese Naturtriebe durch Erziehung, Volkssitte, Erwerbsverhältnisse und Standesunterschiede in gewisse Schranken gebannt, die indessen häufig genug durch die elementare Gewalt der Leidenschaft umgerissen werden. Die verjüngende, auf die Natur zurückführende Kraft der Liebe, welche dieselbe zu allen Zeiten zum Quell der Poesie gemacht hat, weiß die Hindernisse der Erziehung und Verfeinerung des Lebens zu überwinden; sie hat dadurch nicht an Reiz eingebüßt, sondern das Verhältnis der Liebenden zueinander wird im Gegenteil durch die Erschwerung ihrer Vereinigung mit einer Poesie des Sehnens, der Hingebung und Aufopferung umwoben, deren reinigende Wirkung der Natursohn wohl nur in den seltensten Fällen erfährt. Dass die Macht der Leidenschaft durch Hindernisse nur gesteigert wird, beweisen die verzweifelten Schritte so vieler Liebespaare, welche den gemeinsamen Tod der Unmöglichkeit, füreinander zu leben, vorziehen.

Am Ende behandelt Meyers Lexikon sogar Beziehungen, die in der damaligen Zeit als höchst suspekt galten, und wiest sie dem „dunklen, triebartigen Wesen“ der Liebe zu. Dabei wird auf erotische „Hörigkeit“ und "gleichgeschlechtliche Liebe" verwiesen.

Auszug aus einer späteren, kaum veränderten Ausgabe von Meyers Lexikon


Das dunkle, triebartige Wesen der Geschlechtsliebe offenbart sich auch in gewissen Verirrungen derselben, so wenn z. B. verworfene Geschöpfe bessere Naturen unlösbar an sich ketten … oder wenn Personen des gleichen Geschlechts über die Freundschaft hinausgehende Empfindungen erregen. Solche Neigungen sind wohl in der Regel krankhafter Natur und daher milder zu beurteilen, als es meist geschieht.

Brockhaus zum Vergleich (ebenfalls Ende des 19. Jahrhunderts)
Der Brockhaus beschränkt sich auf eine einfachere Erklärung des Wortes Liebe:

Liebe, im allgemeinen Sinne das mit dem Verlangen nach Besitz, Genuss; oder inniger Vereinigung verbundene Gefühl der Wertschätzung eines Gegenstandes oder Wesens. So spricht man von Liebe zu leblosen Gegenständen, zu Tieren, zu Menschen, zu Gott. Auch die innere Hingabe an ideale Güter wird als Liebe bezeichnet, z. B. Liebe zum Guten, Schönen usw. Im engeren Sinne versteht man unter Liebe die Geschlechtsliebe.

Die Beispiele aus dem Bürgertum beweisen, dass man sich seitens der Intellektuellen des 19. Jahrhunderts sehr wohl bewusst war, dass die eigentliche Triebkraft der Liebe die Sexualität ist. Die idealisierenden Sichtweisen werden zwar erwähnt, jedoch sind sich die Lexikonautoren bewusst, worum es in der Liebe eigentlich geht, wie Brockhaus sagt:

Im engeren Sinne versteht man unter Liebe die Geschlechtsliebe.



Quellen: Retro-Bibliothek, sowohl für Meyers als auch für Brockhaus (id=130693).

Wir haben uns bei diesem Artikel bemüht, alles in verständlichem Deutsch zu schreiben. Er enthält allerdings Zitate oder ein Fachvokabular und wendet sich vor allem an Leserinnen und Leser, die ihr Wissen vertiefen wollen.

Herr Beyle erkärt die Liebe - Stendhal und die Liebe Anno 1822

Als die Liebe noch nicht zum Spielball der Wissenschaft geworden war, unternahm ein Franzose im besten Mannesalter den Versuch, sie zu erklären. Sei Name war Henri Beyle, besser bekannt als „Stendhal“. Seine Erklärungen sind Beispiele dafür, wie die die Liebe aus der Kultur eines Landes und einer Epoche erklärt werden kann.

Die vier Arten der Liebe bei Stendhal

Stendhal unterscheidet vier Arten der Liebe:

1. Die leidenschaftliche Liebe.
2. Die gepflegte oder galante Liebe.
3. Die rein sinnliche Liebe.
4. Die Liebe aus Eitelkeit.


Leidenschaftliche Liebe

Zur leidenschaftlichen Liebe müssen wir kaum etwas hinzufügen. Die grenzenlose Wollust, die sich über alle moralischen Grenzen hinwegsetzt, ist ihre Triebfeder und sie wir nur hin und wieder durch kulturelle Einflüsse zurückgedrängt. Heute finden wir sie in der erotischen Literatur ebenso wie im pornografischen Taschenbuch. Doch anders als zu Stendhals Zeiten kann sie heute so gut wie jeder auch körperliche empfinden und darüber reden oder schreiben.

Gepflegte Liebe

Das Gegenteil bei Stendhal ist die gepflegte Liebe, so, wie sie von den Fürsten- und Bürgerhäusern nach außen zelebriert wird: Alles wird in leuchtenden Farben ausgemalt, schwärmerisch vorgetragen und damit überhöht. Ihren Ursprung hat sie in der Minne, in der sozusagen „stufenweise“ festgelegt war, wie man eine Frau galant zu verführen hatte und wann welche Gunst gewährt wurde. Stendhal bezeichnet sie als einen „mühsam vor sich hinschleppenden Schwächling“. Heute finden wir sie in der Masse der Liebesromane, wieder, wobei die Skala von trivialen Groschenromanen bis zu dickleibigen Werken gefeierter Schriftstellerinnen reicht. Im realen Leben kommen diese „Überhöhungen“ heute nur noch selten vor, jedoch beklagen konservative Menschen manchmal, die Liebe würde heute in zu „knalligen“ Farben geschildert.

Sinnliche Liebe

Die rein sinnliche Liebe ist die Liebe des reinen Fühlens, aber auch die der kitschigen Ausmalungen der Sinne. Die einfachen, oft linkischen Verführungen im Jugendalter, die „innere Flamme“, die lodert, die Verliebtheit, das Warten … das ist die sinnliche Liebe. Sie taucht zumeist in der Mädchen- und Frauenliteratur auf. Oft wird dabei eine „rein sinnliche Liebe“ propagiert, also einer Liebe, die vom Triebhaften so gut wie frei ist. In der heutigen realen Welt finden wir diese „romantische Liebe“ oder „zarte Liebesbande“ bestenfalls noch im schwärmerischen Umgang mit der Liebe und in der Verklärung der ersten Begegnungen als „Romanzen“.

Liebe aus Eitelkeit

Die Liebe aus Eitelkeit ist die schlimmste Form der Verwirrung. Man liebt nicht, sondern versucht, sich mit einem „tollen Hecht“, oder einer „schön gewachsenen Maid“ zu schmücken. Wir müssen nicht in die Literatur schauen, um zu wissen, was hier vor sich geht: Bis heute gibt es die eitlen Gockel, die sich mit den makellos schönen, mädchenhaften Frauen schmücken. Bei den Frauen sind es heute die Akademikerinnen und gut verdienenden weiblichen Führungskräfte, für die nur die Sahnestücke am Männermarkt infrage kommen. Hier hat sich also wenig verändert.

Wie Liebe entsteht - nach Stendhal

Über die Entstehung der Liebe entwirft Stendhal ein Schema, das hier vereinfacht und sprachlich aktualisiert wiedergegeben wird. (In Klammern die Bezeichnung bei Stendhal)

1. Jemand erregt unser Interesse. („Bewunderung“).
2. Wir können uns vorstellen, wie schön es wäre, von der Person liebkost zu werden. („Wunsch“).
3. Wir erleben erste Wellen der Wollust und der Begierde und hoffen auf mehr. („Hoffnung“).
4. Die Zeit der Liebeswonnen und des Liebesgenusses beginnt. („Geburt der Liebe“).
5. Die Verklärung der Liebe beginnt. Der Partner wird überhöht. Man ist verblendet. („Erste Kristallisation“).
6. Zweifel an der Liebe werden laut. Wir erkennen, dass wir uns zu schnell von der Liebe überwältigen ließen, dass die geliebte Person auch Eigenschaften hat, die wir übersehen haben – kurz: Wir sehen, dass der Alltag Einzug hält. („Zweifel tauchen auf“).
7. Die Liebe wird auch jenseits der ersten Verliebtheit neu entdeckt, etwa nach dem Motto: „Mit ihr/ihm ist es wundervoll, und ich kann mir vorstellen, dass unsere liebe eine Zukunft hat.


Was von Stendhals Liebesbegriff bleibt

Wenn wir über den Liebesbegriff von Stendhal urteilen wollen, müssen wir drei Punkte berücksichtigen:

1. Die Zeit, in der er lebte, war 1783 – 1842. Manche Betrachtungen orientieren sich stark an der Literatur und an dem, was die Oberschicht über die Liebe aussagt.
2. Für nahezu jeden Bereich des Lebens, vor allem aber für die Liebe, gab es Konventionen, die auch Stendhal nicht vollständig überwinden konnte – sein Buch muss also aus der Zeit heraus verstanden werden.
3. Die Sichtweise war nahezu vollständig männlich. Nur besonders exponierte Frauen wagten in jener Zeit, über die Liebe zu sprechen, und die auch nur sehr zurückhaltend.


Dennoch sind Stendhals Betrachtungen auch heute noch aktuell. Gibt es sie nicht auch heute, die Frauen, die sich Ihrer Wollust schämen? Schmücken sich nicht auch heute noch Frauen wie Männer mit ihren Partnern wie Trophäen? Und wie ist es mit der Literatur? Sind etwa nicht nahezu 98 Prozent der Liebesliteratur, gemessen an dem, was über den Buchhandel geht, aufgeblähte Kitschromane über die Liebe?

Aus dieser Sicht ist Stendhal hochaktuell. Und das war auch einer der Gründe, seine Ansichten hier mit aufzunehmen.

Quelle: Stendhal: Über die Liebe, Deutsche Ausgabe von 1999, frühere deutsche Ausgaben 1950.