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 Echte Gefühle und wie sie beschrieben werden können.

Die Liebe im Zeitgeist der 1950er-Jahre: Erich Fromm

Ich habe lange Zeit überlegt, ob ich Erich Fromm überhaupt in meinen Abhandlungen über die Liebe erwähnen sollte. Aber das Erscheinungsdatum (1956) lag mitten in der Zeit, in der kulturelle Neuerungen mit Argwohn betrachtet wurden. Und um diese Situation zu illustrieren, eignet sich das Werk des Psychologen, Soziologen und Philosophen Erich Fromm ganz vorzüglich.

Der Herr Fromm erklärt die Liebe

Erich Fromm wird immer dann erwähnt, wenn es um die soziologische Seite der Liebe geht. Der Grund war sein 1956 erschienenes Werk: „Die Kunst der Liebe“. Fromm geht dabei davon aus, dass die Gesellschaft den Menschen prägt und die Kultur im vorgibt, wie er sich zu verhalten hat.

Das ist nicht ungewöhnlich für diese Zeit. Fromms Werk über die Liebe trifft den Zeitgeist der 1956er-Jahre in Deutschland. Sowohl sozialistische wie auch konservative Denker versuchen, die Kultur, die sie vor dem Hitler-Regime kannten, in die neue Zeit hinüberzuretten. Die Idee war, genau bei dem Wertsystem wieder anzusetzen, das vor der schrecklichen Nazizeit gegolten hatte.

In Wahrheit war sein Buch eine kritische Abrechnung mit dem Zeitgeist der 1950er-Jahre. Die neuen, emanzipatorischen Bewegungen, insbesondere die der Jugend, waren vielen Autoren ein Dorn im Auge. Und wie viele andere auch, versucht Erich Fromm, die Menschen moralisch aufzubauen, indem er bei älteren Wertsystemen ansetzt. So erklärte er beispielsweise, manche Formen der Liebe seien höherwertig als andere. Die sinnliche Liebe empfindet er als „weniger wertvoll“ und bezichtigt, seine Zeitgenossen „etwas zu verwechseln“.

Ganz im Sinne der Zeit stellt Erich Fromm Forderungen an die Menschen, fordert ein, was sie denken sollen und wie sie fühlen sollen:

Die Liebe sollte im Wesentlichen ein Akt des Willens, des Entschlusses sein, mein Leben völlig an das eines anderen Menschen zu binden.

(Die Kunst des Liebens)

Was aber ist die erotische Liebe in diesem Konzept? Um dies zu erklären, bemüht Fromm einen Dualismus: Die „erotische Liebe“ sei weder etwas „Einzigartiges zwischen zwei bestimmten Personen“ noch sei sie „ein reiner Willensakt.“ Die Frage, was die erotische Liebe dann sei, bleibt allerdings offen.

Ein undiszipliniertes Gefühl soll gebändigt werden

Einer den Kerngedanken von Fromm war, dass Liebe sich nicht beliebige Freiheiten nehmen darf, sondern gewissen Standards entspreche muss. Wegen der großen Bedeutung der Liebe für die Gesellschaftsordnung, so Fromm, müssten wir Menschen uns darum bemühen, dieses Gefühl zu erlernen und zu beherrschen. Allerdings macht er es uns nicht leicht, denn der Moralist Fromm hat hohe Erwartungen an den Menschen. Er soll, um die Kunst der Liebe zu erlernen, vor allem Tugenden anwenden, die in der Liebe zunächst als absurd erscheinen. Seine Medizin heißt „Disziplin, Konzentration und Geduld“. Um seine Denkweise zu verdeutlichen, muss man seine Gleichnisse lesen, die man etwas flapsig als „Lehrjahre sind, keine Herrenjahre“ bezeichnen könnte, etwa, wenn er einen Liebeslehrling mit einem Tischlerlehrling vergleicht.

Ein Tischlerlehrling lernt zunächst einmal hobeln; ein angehender Pianist übt zunächst Tonleitern; ein Lehrling in der Zen-Kunst des Bogenschießens fängt mit Atemübungen an.

(Die Kunst des Liebens)

Bedauerlicherweise bleibt Fromm nebulös, wie eine derartige „Ausbildung“ stattfinden sollte – und vor allem, in welcher Lebensschule sie verfügbar ist oder nachgeholt werden kann.

Doch wie vertragen sich nun Disziplin Konzentration, Geduld und „Wichtigkeit“ als Zielvorstellungen mit der Liebe?

Liebe und Disziplin

Wir erkennen aus der Kombination unschwer, dass es Fromm schwerfällt, die Liebe leicht zu nehmen. „Disziplin“ steht im Deutschen gleichbedeutend mit Zucht („Zucht und Ordnung“). Wenn wir bei irgendetwas Disziplin üben müssen, haben wir das Gefühl eingeengt zu sein und gehorchen deshalb nur widerwillig. Im Grunde ist es darüber hinaus unnatürlich, Ziele ausschließlich durch „eiserne Disziplin“ zu erreichen, weil auch Neigung, Mut und Geschick dazugehören. Wer es einmal versucht hat, wird feststellen: Nur, wenn unsere Disziplin irgendeinen Erfolg zeigt, werden wir damit glücklich oder wenigstens zufrieden sein. Erfolge werden aber (außerhalb des Leistungssports) nicht ausschließlich, ja nicht einmal überwiegend, durch Disziplin erreicht. „Disziplin sollte ein Ausdruck des Wollens sein“, meint Fromm, und deshalb mag als Disziplin gelten, sich auch bei der Liebe Prioritäten zu setzen und Ziele zu verfolgen. Das ist in der Lebenspraxis schwer vorstellbar – auch bei sehr wohlwollender Betrachtung.

Liebe und Konzentration

Konzentration – auf Deutsch also etwa „sich einengen auf ein Thema“ ist für die Liebe interessant, weil diese Methode dann zum Ziel führt, wenn sie klug angewendet wird. Der Autor Gregor Philipp Lindner ersetzt das Wort in seinem Text 50 Jahre später durch „Aufmerksamkeit“ und wählt damit den besseren Begriff: „Wir gewinnen die Liebe durch Aufmerksamkeit und Interesse an den Belangen des Partners“. Das Wort „Konzentration“ will hier – aus heutiger Sicht – nicht mehr passen. Es steht derzeit eher für Erfolgskonzepte im Bereich der Persönlichkeitsentwicklung. (Beispiel in „The One Thing“).

Fromms Dilemma

Das Dilemma der Betrachtungen von Fromm wird in einem seiner letzten Sätze im angeführten Buch deutlich:

„Das Wesen der Liebe zu analysieren, heißt ihr allgemeines Fehlen heute aufzuzeigen und an den gesellschaftlichen Bedingungen Kritik zu üben, die dafür verantwortlich sind.“

(Die Kunst des Liebens)

Dem Ideal der Liebe, wie er sie sieht, stellt Fromm den Verfall gegenüber, den er schon 1956 zu erkennen glaubt. Doch sein Lösungsansatz geht nicht auf, den im liberalen Staat werden die gesellschaftlichen Bedingungen von Menschen verantwortet, nicht von Systemen.

Fromms Thesen werden zwar 50 Jahre später als „äußerst aktuell“ bezeichnet werden, aber diese Einschätzung beweist nur den Unsinn, der in Fromms Aussagen steckt. Kritik an den gesellschaftlichen Bedingungen verändert gar nichts, wenn die Bedingungen für den größten Teil der Menschen durchaus zufriedenstellend sind. Und die Unzufriedenen denken nicht im geringsten daran, ihre Liebespersönlichkeit in Ordnung zu bringen - sie wenden sich eher dem Hass zu.

Spätere Autoren haben aus ähnlichen Aussagen, die „Suche nach Liebe“ sei im Prinzip ein Irrtum, und unser heutiges Verhalten – zum Beispiel die Suche nach Liebe im großen Stil via Internet – sei deshalb verwerflich. Dieser Aspekt ist es Wert, aufgegriffen zu werden, erfordert aber eine recht genaue Analyse. Vorerst sind solche Aussagen nicht mehr wert als das übliche Meinungsgewirr.

Versteinerte Wissenschaften im 21. Jahrhundert?

Die Soziologie – nicht nur bei Fromm – ist eine der wenigen Wissenschaften, die beim Thema „Liebe“ gesellschaftliche Disziplin einfordert. Sie glaubt, zu wissen, was notwendig ist, um den Menschen zu vervollkommnen. Das Unvollkommene, das Werdende und Wachsende ist ihr suspekt, und sie ist geneigt, andere Auffassungen über die Liebe als „Irrtümer“ zu bezeichnen. Obgleich Soziologen die Liebe idealisieren, sehen sie ihre Zukunft pessimistisch – das ist heute (2024) ähnlich wie 1956, als Fromm die Kunst der Liebe veröffentlichte. Als abschreckendes Beispiel mag das 2009 erschienene überaus pessimistische Werk „Das Ende der Liebe“ gelten, in dem im Prolog zu lesen ist: „Die Liebe war eine Schwester der Freiheit. Nun reißt die Freiheit sie mit in den Tod.“ Dafür allerdings gibt es keine Anzeichen. Eher schon dafür, dass die Freiheit durch elitäre Definitionen von „Liebe“ eingeschränkt wird.

Probleme mit dem Fokus bei Fromm und anderen

Je genauer jemand versucht, die Liebe zu beschreiben, umso sicherer verfehlt er sein Ziel. Soziologen glauben, dem Anspruch der genauen Beschreibung verpflichtet zu sein – und vergessen dabei den Kern der Liebe, der absolut irrational ist. Die Liebe ist eben nicht tugendhaft, nicht diszipliniert, nicht eingeengt und nicht zähmbar wie ein Zirkustier.

Das bedeutet nicht, jeden Versuch aufzugeben, die Liebe zu beschreiben. Es mag sogar sehr wichtig sein, weil die Liebe nach wie vor viele Feinde hat, denn nicht nur die Soziologie bemächtigt sicher ihrer Definition. Als Feindin der selbstbestimmten Liebe gilt wahlweise der Sozialismus wie der Kapitalismus, die Freiheit wie der Zwang, die Frauenunterdrückung wie die Frauenemanzipation, der Katholizismus wie das Heidentum. Doch all dies hilft uns gar nichts: Wenn wir die Liebe definieren wollen, müssen wir bei uns selbst anfangen – und nicht in den jeweiligen Kathedralen der Besserwisserei.

Nach meinen neuesten Erkenntnissen (2024) versuchen Soziologen heute, sich stärker auf die „individuelle Liebe“ einzulassen und damit die natürlichen Bedürfnisse der Menschen einzubeziehen.

Erwähnte Schriften: Fromm, Erich: Die Kunst des Liebens. (Zuerst 1956 erschienen), Lindner, Gregor Philipp „Die individuelle Liebe“ (2010) und Hillenkamp, Sven „Das Ende der Liebe“ (2005 )Zum Vergleich auch: Gary Keller, · Jay Papasan „The One Thing“, 2013. Dieser Artikel wurde unter anderen Vorzeichen bereits bei sehpferd veröffentlicht.

Wir haben uns bei diesem Artikel bemüht, alles in verständlichem Deutsch zu schreiben. Er enthält allerdings Zitate aus einem Fachbereich oder nutzt ein entsprechendes Vokabular und wendet sich vor allem an Leserinnen und Leser, die ihr Wissen vertiefen wollen.